Was hat denn Udo Jürgens bitte damit zu tun?


Was hat denn Udo Jürgens bitte damit zu tun

„Ich möchte nur eins von dir wissen. Wie möchtest du heute sterben?“

Kennt ihr den Song „Ich war noch niemals in New York“ von Udo Jürgens?
Ich scheiß auf Hawaii, ehrlich, New York ist mir wahrscheinlich auch viel zu voll und ich hasse Touristen … aber ich will unbedingt nach Kanada. Elche sehen und diese riesigen Ahornblätter in ihren herbstlichen Farben anfassen.

Ihr habt doch mit Sicherheit auch einen Traum?
Und genau dieses scheiß Ding hält mich am Leben. Ich summe den Song oft vor mich hin. Die anderen Mädchen halten mich deswegen schon für verrückt.
Ich halte ihr Winseln und die Hoffnung auf Mitleid für verrückt. 

Ich bin seit 526 Tagen in Gefangenschaft. Von allen Mädchen, die hier in den Käfigen hocken, bin ich am längsten dabei. Wenn ich ihm Glauben schenken darf ist das so, weil ich so schön schreien kann, weil er gerne mit mir spielt und weil ich kreativ bin. Ich rege seine Folter-Phantasien an. Die meisten Mädchen schaffen nicht mal einen Monat, weil ihm das Jammern schnell auf den Sack geht. Aber ich, seine Muse, darf hier ausharren und es amüsiert ihn, dass ich diesen Song vor mich hin summe und mich an meinem bitteren, kleinen Leben festhalte. Aber eben mit diesem, bin ich noch nicht fertig.

Wir nennen ihn Jacob. Irgendeinen Namen mussten wir dem Bastard ja geben, wenn wir über ihn reden.

Er nennt uns wie er will. Muffin, Sonnenschein, Rebecca, Hund … Wurm oder Wicht sind auch hoch in seinem Kurs.

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Meine Eltern tauften mich vor 23 Jahren auf Charlotte.

Ich wurde im Sommer geboren. Die Schwalben wären an diesem Tag in Pirouetten um unser Haus geflogen und die Glühwürmchen hätten wunderbar getanzt, als die Fruchtblase platze und ich mir ein paar Stunden später das erste Mal in meinem neuen Leben die Seele aus dem Leib schrie.

Meine Kindheit verlief unspektakulär. Ich war gut in der Schule und meine Eltern förderten mein Interesse an Sprachen.

Dass mir das heute mal helfen würde, konnte ja niemand ahnen. Ich wollte Auslands-Korrespondentin werden oder Übersetzerin für die UNO, aber auf keinen Fall Übersetzerin für einen Psychopaten.

Wartet … ich schweife ab. Ich hab ja immer noch die Hoffnung, dass einer von euch am Ende der Geschichte die Polizei verständig und wir gerettet werden.

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Also, ich war mit meiner besten Freundin in den Ferien unterwegs. Ich bin ein Pedant. Ich hatte alles durchgeplant, Hostels, günstige Hotels, Sight Seeing Touren und ich kannte alle Marco Polo Touristenführer auswendig. Ich hatte alle Bahn- und Bustickets vorher im Netz reserviert. Jede von uns hatte den Reiseplan, ausgedruckte Tickets aller Stationen im Rucksack und alles auch noch mal mobil dabei. Wir waren dreifach abgesichert und unsere Mütter hatte auch noch mal alles in Kopie, damit sie immer wussten, wo wir gerade waren.

In Rom angekommen checkten wir fix im Hostel ein, machten uns frisch, schnappten uns unsere Sonnenbrillen und hetzten dann zur U-Bahn. Wir hatten einen fixen Termin zur Vatikan Besichtigung, ohne Anstehen. Natürlich hatten wir den, ich hatte das ja vorab gebucht.

Der Vatikan ist schon ein fettes Teil. Was für eine abgefahrene Sammlung an Kunst. Obwohl ich mir „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo irgendwie größer vorgestellt hatte. Das ist ja nur ein kleines Ding, zwischen vielen anderen winzigen Dingern.

Dafür war die Aussicht vom Petersdom der Hammer. Der Aufstieg ist ein Abenteuer für sich und ab 1,90m Körpergröße nicht mehr zu empfehlen, aber einmal über Rom zu schauen, genial. Für den Vatikan stand dann nur noch die Krypta unterhalb des Petersdoms auf unserem Zettel. Also wieder ab nach unten.

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Total fasziniert von den Gräbern, ging ich kopfschüttelnd an den Touris vorbei, die sich hinknieten und beteten. Es nervte mich schon ein wenig, dass es hier so brechend voll war, als mich ein junger Typ an den Oberarm fasste.

Er ging nur einen Schritt mit mir um die Ecke, in sowas wie eine Nische. In der gleichen Sekunde, in der ich meinen Arm aus seinem lockeren Griff befreite, drehte er an einem der verarbeiteten Totenköpfe, man hörte ein dumpfes Grollen und ein Spalt tat sich auf. Er grinste mich mit einer perfekten weißen Zahnreihe an. „Der ganze Vatikan ist voll von Geheimgängen, die unter Rom verlaufen“, flüsterte er mir verschwörerisch zu, „damit die Päpste im Notfall schnell fliehen konnten. Kommst du mit und wir gucken wo dieser hinführt?“

Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Ich wollte nur ganz kurz durch den Spalt gucken. Ich bin einfach unfassbar neugierig. Ich hatte noch nicht mal meinen Fuß richtig durch den kleinen Spalt gesetzt, da zog etwas heftig an meinem Arm, drückte mir etwas aufs Gesicht und ich war weg.

Als ich wieder zu mir kam, hatte die Schädelschmerzen meines Lebens und irgendwie war mein Blick noch total verschwommen.  Als ich meinen Kopf abtasten wollte, merkte ich, dass ich mich nicht bewegen konnte.
Natürlich stieg die totale Panik in mir auf. Dann hörte ich einen Herzmonitor, der neben mir lauter und schneller wurde. Ich sog tief Luft ein und atmete aus. Beruhige dich, du bist in einem Krankenhaus, sprach ich zu mir selbst.

Ich rief ein paar mal, dass ich wach wäre, obwohl es sich dabei anfühlte, als würde mein Schädel zerbersten. Ich hörte Schritte, ein rascheln, sah was großes Weißes an mir rumfummeln und schlief wieder ein.

Als ich das nächste Mal erwachte, waren die Kopfschmerzen weg, der Herzmonitor piepte regelmäßig und nachdem ich ein paar Mal meine Augenlider gezwungen hatte, ihre Arbeit zu verrichten, war auch der Schleier vor meinen Augen verschwunden. Ich lag in einem weißen Zimmer, umgeben von typischen Krankenhausgerätschaften, allerdings war ich immer noch fixiert. Hatte ich vielleicht um mich geschlagen?
Ich rief nach jemandem und diese Mal dauert es nicht lange, bis sich die Tür öffnete und der Arzt herein kam. Hach, er hatte auch so ein breites Lächeln wie der Typ, der mir die Geheimgänge zeigen wollte.

„Was ist passiert, wieso bin ich fixiert?“ fragte ich ihn. Er hielt mir erst mal einen Becher hin, steckte mir vorsichtig den Strohhalm in den Mund und als ich trank wurde mir erst bewusst, wie durstig ich war.
„Hi Muffin. Ich habe dich entführt. Du bist nicht einmal mehr in Italien.“ Sein Grinsen wurde dabei noch breiter und der Herzmonitor neben mir piepte wieder schneller.

Ich wollte mich aufrichten, doch er hatte mich einfach zu gut festgeschnallt. Ich konnte gerade mal meinen Kopf nach rechts und links drehen und nur leicht anheben. Viel mehr war nicht drin. Er beugte sich über mich, küsste mich sanft auf die Stirn und sagte: „Du begibst dich in die Welt des Schmerzes“. Hatte er gerade aus Big Lebowski zitiert? Er hielt sein Versprechen.

Käfig

Ich zog aus dem Zimmer in einen Käfig. Neben mir, über mir, unter mir, gab es weitere Käfige und jeder war besetzt. Ich sprach mit Mädchen aus der ganzen Welt. Keine wusste, wo wir waren. Sie kamen aus ganz Europa.

Ihnen fehlten Ohrläppchen, Finger, manchmal auch nur die Fingernägel, Lippen, einige hatten keine Haare mehr und man konnte sehen, dass sie Narben auf dem Kopf hatten. Und das waren die, denen es eigentlich noch gut ging.

Er tat mit mir, was er mit allen tat. Jeden Tag kam er, nahm eine von uns mit und brachte uns abends zurück. Manchmal konnte wir noch selbst zurück in die Käfige gehen, manchmal war das anatomisch  nicht mehr möglich. In den letzten paar Wochen verlor ich alle Finger meiner linken Hand, ein paar Backenzähne, Zehe, meine Haare, ein Ohr und Haut. Das war es, was ihn an mir faszinierte. Die anderen Mädels wimmerten und bettelten, entschieden sich dann schnell für ein Körperteil und er nahm es ihnen. Ich wimmerte und bettelte nicht. Wir besprachen sachlich, was wir als nächstes tun würden. Natürlich schrie ich bei der Prozedur selbst auch. Ich weinte auch, wenn er mich holte. Mein Herz schlug so schnell, dass ich täglich auf den erlösenden Herzinfarkt hoffte, doch er trat nicht ein. Also summte ich Udo Jürgens vor mich hin. Keine Ahnung, warum es dieser Song war, ich war nicht mal Jürgens Fan.

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Am liebsten verätzte er mir die Haut. Nicht einfach so, nein. Er ätzte kleine Muster hinein, so dass ich „schöne“ Narben bekommen würde.

Heute hatten wir uns dafür entschieden, mein linkes Auge zu verätzen. Ich konnte ihn runterhandeln von beiden Augen auf eins, da es ihm doch noch logisch erschien, wenn ich weiterhin für ihn die anderen Mädels übersetzen sollte, dass ich dabei ihre Körpersprache sehen muss.

Er fixierte mich auf der Bare. Ich sah die Nadelspitze auf mein Auge zukommen. Tränen schossen ein, als ich einen lauten Knall hörte und … war das koreanisch und schrie der Typ „Hände hoch“? Oh Gott, war das die Polizei? Ich atmete schneller, Jacob sah sich hektisch um, rammte mir die Nadel ins Auge und drückte die ganze Ladung ab, als ein Schuss fiel.

Ich begann zu zucken und verkrampfte. Um mich herum wurden die hektischen Stimmen leiser und ich starb.

Und ihr fragt euch jetzt, wie ich euch das hier alles erzählen konnte?
Ich bin ein Geist und dies ist eine Gruselgeschichte.

Im Rahmen einer Lesung im Lingener Kutscherhaus, sollten wir eine Gruselgeschichte schreiben.

Ich habs versucht, wie ihr gelesen habt ;)

Und deine Meinung dazu?